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KMU als Automobil-Entwickler

Sitzkonzept
KMU gehen beim Ultraleichtbau in die Offensive

Nichts weniger als einen Paradigmenwechsel anstoßen wollen die sieben Unternehmen, die in einer Machbarkeitsstudie ein völlig neuartiges Sitzkonzept realisierten – mit dem Potenzial, mehrere Kilogramm Gewicht einzusparen. Ihre Botschaft: Wo KMU innovativ und zielgerichtet zusammenarbeiten, können sie zur Speerspitze des Leichtbaus für die Automobilindustrie werden.

Olaf Stauß

Der „Ultraleichtbausitz“ wurde im März 2019 in Kasel bei Trier auf einem Symposium vorgestellt, das den Titel „Step Change im Leichtbau“ trug. Was die sieben Unternehmen auf dem Dominikaner-Weingut als Machbarkeitsstudie präsentierten, lässt erstaunen: In nur sieben Monaten hatten sie ein Pkw-Sitz-Konzept realisiert mit dem Potenzial, mehr als 20 % Gewicht gegenüber klassischen Konstruktionen einzusparen. Der Sitz ist vollgepumpt mit neuen und in dieser Kombination noch nicht verwendeten Werkstoff- und Fertigungstechnologien. Er kann automobile Serien inspirieren oder auch für Spezial-Vehikel wie Lufttaxis adaptiert werden. Die Reife für eine unmittelbare Serienfertigung hat er nicht, darauf zielten die Akteure auch nicht ab. Sie hatten ja keinen Auftrag.

Ihnen ging es um etwas anderes. Um einen Sprung nach vorne in der Leichtbauentwicklung. Den Demonstrator verstehen sie als ein Modell dafür, wie Leichtbau schneller, flexibler und effektiver betrieben werden kann, wenn Know-how-Träger mit ihrem spezifischen Können und Wissen kooperieren. Häufig sind das kleine Firmen. „Die Kompetenzen im Markt sollten wahrgenommen werden“, sagt Rainer Kurek, geschäftsführender Geschäftsführer der zehn Mitarbeiter starken Automotive Management Consulting GmbH (AMC). Er ist Experte für ultraleichte Sportwagen, treibende Kraft und Mitinitiator des Projekts.

„Wir sollten Leichtbau ganzheitlich angehen“

„Leichtbau muss neu gedacht werden“, meint Kurek. „Wir sollten Leichtbau ganzheitlich und systemisch angehen: additiv, hybrid, integrativ und bionisch inspiriert.“ Chancen dafür sieht er eher bei schlagkräftigen Konsortien aus KMU als bei den Großen, die aber Nutznießer sein können. Dafür ist das Sitz-Projekt ein Vorzeigebeispiel und will es auch sein. Es hat eine Vorgeschichte. Um das Leichtbau-Profil der Messe Composites Europe zu schärfen, führte Veranstalter Reed Exhibitions in den Jahren 2017 eine Technologie- und 2018 eine Marktstudie mit AMC durch. Um das Potenzial zu veranschaulichen, sollte eine Machbarkeitsstudie folgen – die Partner einigten sich auf einen Leichtbau-Sitz. Noch im November 2018 wurde die Neukonstruktion virtuell auf dem „Lightweight Technologies Forum“ (LTF) der Composites Europe in Stuttgart präsentiert, im März in Trier dann physisch greifbar.

Der Sitz vereint eine Fülle neuer Technologien. Die mit dem größten Leichtbaupotenzial nennt sich „xFK in 3D“ und nimmt die großen Lasten auf. Sie sieht vor, wirklich nur dort Material unterzubringen, wo es für die Lastpfade gebraucht wird – ähnlich wie beim 3D-Druck, nur dass hier harzgetränkte Endlosfasern im dreidimensionalen Raum positioniert werden. Rainer Kurek hatte die Technologie vor Jahren entdeckt und mit Partnern weiter kultiviert. In Industrieanzeiger 27/2019 zur Messe K 2019 werden wir xFK in 3D ausführlich vorstellen.

CSI Entwicklungstechnik, ein auf die digitale Entwicklung fokussierter Engineering-Dienstleister mit über 600 Mitarbeitern, koordinierte das Projekt. Als Mitinitiator gestaltete CSI eine durchgehend digitale Prozesskette, leistete die komplette Entwurfsarbeit am Computer und nutzte die Chance, bei xFK in 3D weiter Know-how aufzubauen – mit beratender Unterstützung von AMC. Projektleiter Stefan Herrmann erklärt xFK in 3D so: „Es ist ein berechnungsgetriebenes Verfahren. Die Entwickler starten mit den Anforderungen und der Simulation und beginnen dann erst mit dem Konstruieren.“ Dritter Projektpartner und Mitinitiator ist Alba Tooling & Engineering mit rund 400 Mitarbeitern. Alba baute Werkzeuge für die divesen Kunststofftechnologien inklusive xFK in 3D, übernahm große Teile der Fertigung (etwa der Sitzpolster) und den Zusammenbau.

Die glorreichen Sieben des Leichtbaus

Noch fehlen vier in der Liste der Partner. Sie wurden rechtzeitig gefunden – zu ihnen gleich mehr. Wer den Western-Klassiker „Die glorreichen Sieben“ kennt, kann sich ein Bild von den Abläufen in einem solchen Projekt machen: Kantige Typen mit je sehr eigenem Können verbünden sich, um ein waghalsiges Ziel zu erreichen, und zwar innerhalb von kürzester Zeit. Der Erfolg hängt davon ab, ob sie sich zusammenraufen. Digitalisierung macht dies heute möglich. „Die meiste Abstimmung lief im virtuellen Raum mit Web- und Telefonkonferenzen, geteilten Dateien, virtuellen Räumen“, sagt Stefan Herrmann. Und schnell musste alles gehen. Michael Janz, Projektmanager bei Alba Tooling: „Wir erstellten die Bearbeitungsprogramme während die Beschaffungsmaßnahmen liefen.“

Die passenden Partner zu akquirieren, gehört zum Job. 3D | Core zum Beispiel stieß später hinzu und brachte Werkstofftechnologien aus dem Bootsbau mit ein, die sich nun im „Back Panel“ des Sitzes wiederfinden. Es besteht aus einer ultraleichten Schale mit Schaumkern. Das Innovative sind die hexagonalen Auslassungen, die bei der Formgebung im RTM-Prozess mit Harz verfüllt werden. Diese Harz-Brücken versteifen den leichten, an sich biegeweichen Schaum und binden die Deckschichten an. Ihre Honigwaben-Optik verleiht dem Leichtbau-Sitz eine sehr ästhetische Rückansicht.

Weitere Partner sind Covestro – das einzige Großunternehmen im Konsortium, Robert Hofmann und LBK Fertigung. LBK produzierte die xFK-Wickelstruktur, Hofmann fertigte additiv die dafür benötigten Metallbuchsen und druckte diverse Kunststoffblenden. Covestro, eingebunden durch Michael Janz, steuerte 3D-gedruckte Lehnenpolster bei – die ersten additiv gefertigten überhaupt – und lieferte spezielle Binder für Faservliesmatten und Formteile. Möglich wurde diese effiziente Kooperation nur durch die Infrastruktur einer digitalen Prozesskette.

20 % leichter, modular aufgebaut und mit sportlich modernem Design

Im Resultat wiegt der Pkw-Sitz etwas mehr als 10 kg – mindestens 20 % weniger als in klassischer Bauweise. Er ist modular aufgebaut und wird nahezu ohne Faserverschnitt produziert. Und er orientiert sich an hohen Qualitätsansprüchen, wie sie die Branche an Eigenschaften und Design stellt. „Der Sitz sollte geil aussehen und tut es auch“, sagte ein CSI-Entwickler zufrieden, als sie in Trier das Tuch vom Prototypen zogen.

Wenige Monate später kam die Anerkennung der Fachwelt in Form von Preisen. Ende Mai wurde der Sitz mit dem German Innovation Award 2019 ausgezeichnet, im August mit dem Altair Enlighten Award 2019 in der Kategorie „The Future of Lightweighting“.

Der Demonstrator hat verblüffende Ähnlichkeit mit den ersten Entwurfsskizzen – was selten ist. „Wenn der Geist stimmt, musst Du gar nicht so viel ändern“, kommentiert Kurek das Ergebnis. Der Spirit der Sieben hat gehalten. In einem aufwändigen co-kreativen Prozess haben alle an einem Strang gezogen. Dies dürfte der wichtigste Triumph sein. Kurek wertet das Projekt als „Gegenmodell“ zu herkömmlichen Entwicklungsprozessen. „Wir müssen zunehmend in Konsortien entwickeln, wenn wir in Europa erfolgreich bleiben wollen“, sagt er – um schnell und innovativ genug zu sein. Und Stefan Herrmann schlägt den Bogen zum Tagungsort. „Die Präsentation auf dem Weingut hat Symbolkraft“, sagte er – als ein Zeichen, dass die hier beheimatete Industrie (digital) wandlungsfähig bleibt.

http://www.ultraleichtbausitz.de/

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