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Das Luer-System

« Aus der Not eingeführt, doch aus Überzeugung beibehalten »

Der 28. August 1988 geht in die deutsche Geschichte als ein Katastrophentag ein. Auf der US-Militärbasis Ramstein in Rheinland-Pfalz stürzen während einer militärischen Flugschau drei Flugzeuge in die Menschenmenge. Mit 70 Todesopfern und etwa 1000 Verletzten gehört dieses Unglück zu den folgenschwersten dieser Art weltweit. Die Notfallversorgung der Opfer erschwerte und verzögerte sich aufgrund der nicht kompatiblen medizinischen Infusions- und Injektionssysteme der deutschen und amerikanischen Rettungsdienste.

In Deutschland wurde zu dieser Zeit noch flächendeckend Gebrauch von Injektions- und Infusionskanülen mit Rekord-Konus gemacht, ein Anschlusssystem, mit dem das von den Amerikanern verwendete Luer-System nicht kompatibel ist. Für die Rettungskräfte bedeutete dies einen enormen organisatorischen Mehraufwand, geeignetes Hilfsmaterial heranzuschaffen, für die vielen Opfer jedoch eine verzögerte Versorgung mit teilweise gravierenden Folgen. Da dies durch ein einheitliches System hätte verhindert werden können, wurde noch im gleichen Jahr das Luer-System, das in vielen Staaten schon Standard war, auch in Deutschland eingeführt.

Wo kommt der Name „Luer“ her?

Das Luer-System, gesprochen „Lüer“, ist nach dem deutschen Instrumentenmacher Hermann Adolph Wülfing Luer (1836 – 1910) benannt, der in Paris im Betrieb seines Schwiegervaters tätig war und den zeitweilig wohl auch leitete. Es gilt als wahrscheinlich, dass das Prinzip des Verbindungssystems von seiner Frau Jeanne Amélie Luer (1842 – 1909) erdacht worden ist, mit der er seit 1867 verheiratet war. Sicherlich der damaligen Zeit geschuldet, die Frauen nur am Kochtopf kannte, meldete er ihre Erfindung als sein Patent an, das 1898 von dem ein Jahr vorher gegründeten amerikanischen Medizintechnik-Unternehmen „Becton, Dickinson and Company“ (BD) aufgekauft und später zu dem heute meist verwendeten „Luer-Lock“-System weiterentwickelt wurde. Das inzwischen weltweit operierende Unternehmen für Einmal-Medizinprodukte hält bis heute die Rechte an allen Luer-Verbindungssystemen.

Zentralvenenkatheter
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Wie arbeitet das Verbindungssystem?

Die Technik des Luer-Verbindungssystems könnte einfacher und effektiver nicht sein. Es findet sein Pendant im Kegel-Normschliff (NS) der chemischen Labortechnik zur Verbindung zweier Glasgeräte. Dabei wird der Kern, ein kegelförmiges Endstück, in eine kegelförmige Hülse eingeführt. Die sich berührenden Glasoberflächen sind aufeinander eingeschliffen und werden mit Schlifffett gängig gehalten und abgedichtet.

In neuerer Zeit kommen dafür auch fettfreie PTFE-Sprays, PTFE-Bänder oder aus halbplastischen PTFE-Formulierungen vorgefertigte PTFE-Glasschliff-Manschetten und speziell für die Hochvakuumtechnik entwickelte, mehrfach dichtende PTFE-Griffbandrand-Kegelschliffdichtungen zum Einsatz. Normschliffe existieren in definierten Größen und bieten so eine große Vielfalt von Verbindungsmöglichkeiten für Labor-Glasgeräte.

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Das Luer-System funktioniert nach einem ähnlichen Verschlussprinzip. Der Luer-Konus sorgt für Abdichtung beim Zusammenführen der entsprechenden Verbindungteile, die in männlich (engl.: male), entsprechend dem Innenkegel, und weiblich (engl.: female), entsprechend dem Außenkegel, unterteilt werden können. Zur vereinfachten Handhabung und Sicherstellung der Kompatibilität existiert das standardisierte System im Gegensatz zum Normschliff jedoch nur in einer Größe. So kann vor allem bei der medizinischen Verwendung der schnelle und nahezu universelle Einsatz des Verbindungssystems garantiert werden.

Die einfachste Luer-Verbindung stellt dabei das Luer-Slip System dar, bei dem der männliche und weibliche Teil der Verbindung durch Stecken zusammengefügt werden. Bei dieser Grundvariante besteht allerdings die Gefahr des unkontrollierten Lösens der Verbindung, etwa wenn es zu einem Druckanstieg in dem Schlauchsystem kommt oder zu Zugbelastungen. Um solchen Problemfällen vorzubeugen wurde das Luer-Slip System weiterentwickelt. Durch Einbringen eines Gewindes am männlichen Kegel können die Verbindungsstücke durch eine halbe Drehung fest miteinander verriegelt werden. Dieses als Luer-Lock bezeichnete System bietet nun die Sicherheit für einen kontrollierten Flüssigkeitstransfer.

Die Relevanz dieser Absicherung ergibt sich nicht nur für den medizinischen Gebrauch. Auch im chemischen Labor ist das Luer-Lock-System eine der vielen Möglichkeiten für das werkzeuglose, feste Verbinden von Schläuchen und damit für ein sicheres Schlauchmanagement.

Für jede Anwendung die richtige Verbindung

Die hochpräzise gefertigten Luer-Verbindungen kommen auch als Hähne, Adapter, T-Stücke oder Winkel zum Einsatz, aus verchromtem Messing, aus Polypropylen (PP) oder Polycarbonat (PC), zum Fördern von Flüssigkeiten oder Gasen. Den Einsatzmöglichkeiten sind im chemischen Labor kaum Grenzen gesetzt. Gerade für Apparaturen, in denen toxische oder radioaktive Substanzen bearbeitet werden, bewährt sich das Luer-Verbindungssystem auch aus arbeitstechnischer Sicht.

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Durch die Wahl eines geeigneten Schlauchadapters können selbst zöllige Schlauchtüllen mit Luer-Systemen verbunden werden. Dabei besteht die eine Seite des Schlauchadapters aus dem genormten männlichen oder weiblichen Luer-Anschluss und die andere Seite kann variabel an das Schlauchsystem angepasst werden. Einfache T-Kopplungsstücke ermöglichen Verzweigungen, bei denen sich beispielsweise Flüssigkeiten in mehreren Schlauchsystemen gleichmäßig verteilen können. Während die Verwendung eines Luer 3-Wege-Hahns eine gezielte Verbindung zweier Schläuche möglich macht. Diese Konstruktion vereinfacht beispielsweise die Zugabe einer Substanz oder den Wechsel eines Mediums während einer laufenden Reaktion.

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Die Wahl der Materialien für das Luer-System, inklusive aller Zusatzelemente, ist dabei von dem zu fördernden Medium und den Förderbedingungen abhängig. Der pH-Wert, die Temperatur, der herrschende Druck, aber auch die Eigenschaften der durchzuleitenden Flüssigkeiten oder Gase müssen bei der Auswahl berücksichtigt werden.

Viele der für das Luer-System in Frage kommenden Kunststoffe sind FDA zertifiziert (siehe dazu auch den Artikel Was bedeutet FDA konform?). Für die Nutzung im chemischen Labor ist das kaum relevant, hier genügt meist die sichere Funktion der Verbindung. Aber für den klinisch-medizinischen Bereich ist die FDA-Zertifizierung der verwendeten Materialien unabdingbar, die auch für den Einsatz in der Lebensmitteltechnik und pharmazeutischen Industrie Voraussetzung ist.

Medizinischer Katheter in Patientennaehe
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Gibt es eine Kehrseite?

Das Luer-System bietet viele offensichtliche Vorteile. Die international einheitliche Nutzung eines Verbindungssystems von Spritzen, Kanülen und Schläuchen vor allem im medizinischen Bereich erleichtert den Einsatz der Rettungskräfte in einem Notfall. Kompatible Systeme können leicht ineinander überführt werden und auch die Schulung des Personals im Umgang mit diesen Systemen erfährt eine Vereinfachung. Eine deutsche Krankenschwester kann so auch in einem amerikanischen Krankenhaus mit dem dort gebräuchlichen Infusionsbesteck sicher umgehen. Doch bei aller Einheitlichkeit wächst auch das Risiko für Verwechslungen. So kann es vor allem im hektischen medizinischen Alltag zu ernsten Zwischenfällen kommen, aber auch im chemischen Labor, wenn Schlauchverbindungen verwechselt werden.

Eine absolut verwechslungsfreie Handhabung würde ein auf dem Luer-System aufbauendes System nur dann bieten können, wenn spezifische Verbinder für die entsprechenden Anwendungen verwendet würden. Jedes System wäre dann nur mit sich selbst kompatibel und könnte gegebenenfalls fatale Verwechslungen ausschließen. Doch eine solche Entwicklung würde das bewährte Luer-Koppelungssystem ad absurdum führen. Es ist zwar auch zukünftig zu erwarten, dass Weiterentwicklungen und Optimierungen vorgenommen werden müssen, das Luer-System bietet jedoch in einem so großen Maße Vorteile, dass die vollständige Erneuerung des Systems, sein Ersatz oder gar seine Abschaffung unwahrscheinlich scheint.